Guckst Du | Texte | Kusen - Mündliche Unterweisungen im DojoLetzte Woche sind Evi und ich von einem Sommerlager in Frankreich zurückgekehrt. Ein Lager dauert neun Tage, die ersten fünf Tage werden Vorbereitungszeit genannt, an denen dreimal am Tag Zazen praktiziert wird. Dann folgt ein Ruhetag und schließlich ein zweieinhalbtägiges Sesshin. Es haben um die 160 Leute aus ganz Europa teilgenommen. Der Koch kam aus Italien, der Kaffee wurde von einem Berliner vorbereitet, die Bar war in belgischer Hand und organisiert wurde das Lager von Franzosen. Viele schliefen in großen Gemeinschaftszelten, einige in Schlafsälen und manche in Zimmern.
Auch wenn das Gelände groß ist, kommt man immer wieder zusammen, zum Beispiel wenn das Holz zum Zazen geschlagen wird, oder das Metall zum Essen, oder die Glocke zum Samu. Man trifft sich morgens und abends im Waschraum oder zwischendurch in der Raucherecke. Man kommt immer wieder zusammen, aber auf dem Zafu vor der Wand sitzt man alleine.
Warum geht man auf ein Sesshin? Warum nehmen manche eine lange Anreise auf sich, von 10, 12 Stunden oder länger? Warum verlassen sie ihr Heim, ihre Familie oder Freunde, teilen sich einen Schlafraum mit Unbekannten und schlafen mit Ohrstöpsel, damit sie trotz möglichem Geschnarche Schlaf finden? Warum sind sie dazu bereit, Töpfe zu schrubben, Duschen und Klos zu putzen, obwohl es im eigenen Haus, im Garten viel zu tun gibt? Warum stellen sie sich darauf ein, mehr als sechs Stunden am Tag Zazen zu praktizieren, auch wenn sie damit rechnen können, dass irgendwann der Rücken oder die Knie schmerzen?
Das Wort „Sesshin“ bedeutet, „den Geist berühren“, „mit sich selbst tief vertraut werden“. Wenn man tief in die Zazen-Praxis eingetaucht ist und die Konzentration in alltäglichen Tätigkeiten fortsetzt. Wenn man aufhört zu diskutieren und abzuwägen. Wenn man aufhört, ständig Positionen einzunehmen: „das mag ich, das mag nicht ich, das ist meins, dies sind meine Ideen.“ Wenn man in jedem Augenblick einfach nur das tut, was gerade zu tun ist: Zazen praktizieren, Ritualen folgen, spazieren gehen, essen, abwaschen, ruhen, Gemüse schneiden und wieder Zazen praktizieren.
Auf ein Sesshin zu gehen bedeutet, der Unruhe des Alltags den Rücken zu kehren und sich nicht ständig ablenken zu lassen. Es bedeutet, seine Komfortzone zu verlassen, seine Gewohnheiten, seine Vorlieben, und sich einige Tage lang Tätigkeiten zu widmen, aus denen das Ego keinen Vorteil zieht. Es bedeutet, nirgends zu verweilen, alle Zustände, Empfindungen, Wahrnehmungen und Emotionen, die auftauchen, zu durchqueren und wieder ziehen zu lassen, um jeden Augenblick mit einem neuen, frischen Geist zu empfangen. Es bedeutet, Gegensätze aufzugeben und keine Trennungen mehr zwischen einem selbst und den anderen zu schaffen, bis der Punkt erreicht wird, an dem alle gleich sind.
In der heutigen Welt werden alle Gegensätze verschärft. Jeder will seine Ansichten durchsetzen und seine Identität behaupten. Jeder will auf seinen Positionen beharren, ob beim Partner, in der Familie, unter Kollegen, im Internet oder auf der Ebene der Länder und Nationen. Weil jeder Angst davor hat, sein Ego loszulassen, entstehen Spannungen und Konflikte.
Ein Sesshin zu praktizieren bedeutet, dieses gefährliche Spiel, das Spiel der Illusion, zu erkennen und zu beobachten und zu lernen, sein Leben im samadhi, in der großen Konzentration zu verbringen. Es ist eine großartige Gelegenheit, tief diesen Geist zu erfahren, der frei von Anhaftung, frei von Gewinn und Verlust ist.
Dafür lohnt es sich, sich in Bewegung setzen, seine Gewohnheiten und seine Bequemlichkeit hinter sich zu lassen, um einige Tage zu erleben, an denen man nicht von seinem Ego geleitet wird.
Si 08/2024
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